D Kanun

Der „Kanun“ ist eine Zusammenstellung traditioneller Gesetze und ungeschriebener sozialer Normen und Vorschriften, die das Zusammenleben der Albaner vor Entstehen eines modernen Staates regelten. Er hatte als ältestes Gesetz großen Einfluss auf das Bewusstsein der Menschen, denen es heilig und unantastbar war. Generationen hindurch mündlich übermittelt, wurde es erst im 20. Jahrhundert niedergeschrieben und veröffentlicht. Heute verbindet man es mit dem „Kanuni i Lekë Dukagjinit“, der noch immer in Nordalbanien Anwendung findet. Der Kanun wurde im 15. Jahrhundert offiziell von Lekë Dukagjin, dem Prinzen des Fürstentums von Dukagjin, festgeschrieben. Hiermit aktualisierte er bereits bestehende und seit einigen Jahrhunderten gültige Gesetze. 

Die Niederschrift unterteilt den Kanun in 12 Abschnitte und 1.262 Artikel zu jedem Aspekt des sozialen, wirtschaftlichen und moralischen Lebens. Klare Anleitungen und Normen regeln Aufbau und Zusammenleben von Menschen, Familien und Sippen. Der Kanun betont Respekt und Anerkennung von Landbesitz und Grenzen; von Blutbanden mit ihrer großen Wertschätzung innerhalb der Familie; ferner Heirat und Gastfreundschaft. Er war gültig für jeden, der auf ethnisch albanischem Boden Albaniens, des Kosovo, Montenegros und Mazedoniens lebte, unabhängig von religiöser Zugehörigkeit. Zentrales Element des Kanun war die „Besa“ („das Ehrenwort“) als Fundament für zwischenmenschliches und soziales Verhalten. 

Nur wenige Menschen wissen um die Existenz weiterer Kanuns mit Anwendung nur in jeweils einer besonderen Region. In chronologischer Ordnung sind dies: „Kanuni i Vjetër“ (der Alte Kanun), „Kanuni i Lekë Dukagjinit“ (der Kanun des Lekë Dukagjini), „Kanuni i Çermenikës“ (der Kanun des Çermenikë), „Kanuni i Papa Zhulit“ (der Kanun des Papa Zhuli), „Kanuni i Labërisë“ (der Kanun der Labëria) und „Kanuni i Skënderbeut“ (der Kanun des Skanderbeg) - auch bekannt als „Kanuni i Arbërisë“ (der Kanun der Arbëria) und dem Kanun des Lekë Dukagjini am ähnlichsten.  

Während der langen Zeit von der Antike bis zur osmanischen Invasion regierte der Kanun sozusagen unabhängig die albanische Gesellschaft. Ursprünglich dafür konzipiert, das Zusammenleben der Sippen zu regeln, war er im 19. Jahrhundert überholt und konnte für viele Probleme aus neuen sozialen Entwicklungen und dem Untergang des Osmanischen Imperiums keine adäquaten Lösungen mehr bieten. 

Während des Kommunismus bot die Regierung dem Kanun Einhalt, jedermann hatte die Staatsgesetze zu befolgen. Nach Zusammenbruch des Kommunismus versuchte man ihn wiederzubeleben, doch waren essentielle Teile des Buches verloren gegangen, was zu falscher Auslegung des Gesetzes führte. 

Obwohl er heute als archaisch und altertümlich gilt, sollte man wissen, welch wichtige Rolle der Kanun im jeweiligen sozialen und politischen Kontext spielte. Er vereinte die Albaner kulturell und traditionell. Er stärkte die ethnische Verbindung während der langen Kriege und der osmanischen Invasion und trug über die Jahrhunderte bei zum Erhalt der albanischen ethnischen Identität.

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